Jón Trausti - Das Fest auf Grund
Sonntag, 18. Mai 2025
2. Kapitel: Helga (1)
Die Tür wurde hinter ihm geöffnet, und die Hausherrin Helga stand in der Tür.
„Guten Tag, Pater“, sagte sie. „Störe ich dich in deiner heiligen Andacht?“
„Keineswegs“, sagte der Mönch und stand auf.
Er schaute die Hausfrau an und sah, daß sie anders war als sonst. Sie atmete schwer und wirkte unruhig, obwohl sie sich beherrschte. Ihm kam der Gedanke, ob sie gekommen war, um zu beichten. Das konnte eigentlich nicht sein. Sie beichtete höchstens einmal im Monat, und auch das war nur ein Alibi. Es waren keine echten Beichten.
1. Kapitel: Snjólfur (8)
Und in gewisser Hinsicht konnte man auch sie beide zu den Frauen zählen. Steinn war ein gebrechlicher alter Mann und tat nichts anderes, als Fisch zu klopfen. Das war mehr als genug Arbeit für seine alten und lahmen Arme, und er legte bei dieser Arbeit keinen großen Eifer an den Tag, obwohl die Bewohner von Grund reichlich getrockneten Fisch brauchten.
Und er selbst, der Kanoniker – er war auch nur ein halber Mann, ihm war keine Männerarbeit zugedacht. Obwohl sie beide, der alte Steinn und er, jeden Tag und den ganzen Tag mit den Frauen zusammen waren, hatte keiner Grund zur Eifersucht.
Es führte dazu, daß er sich für sein Mönchsein schämte.
1. Kapitel: Snjólfur (7)
Er las von der Unmenge der Wunder, die die Gebeine der Seljamänner vollbracht hatten, womit sie sich als Heilige erwiesen hatten, von dem Licht, das König Olaf über der Insel sah, als er dort an Land segelte, und von dem Körper der Sunniva, den er unversehrt und mit geronnenem Blut vorgefunden hatte. Die glänzenden Haare, die in dem silbernen Schrein auf dem Altar in der Kirche aufbewahrt wurden, die der König dort, wo er das Licht gesehen hatte, hatte bauen lassen – all das, wovon er wußte, daß es ein Haufen Lügen war, zusammengedichtet von Männern wie ihm, um dem Prior und dem Bischof die eigene fromme Gesinnung und die Liebe zu allem, was „heilig und rein“ war, zu beweisen. Und während des Lesens hörte er schwere Schläge, die gleichmäßig und nicht oft fielen.
Samstag, 17. Mai 2025
1. Kapitel: Snjólfur (6)
Er wußte genau, daß es die Fleischeslust war, von dem die Heiligen in ihren Legenden erzählten, Begehren, das er versprochen hatte, mit der Wurzel auszureißen. Und obwohl er von der unschuldigen Sunniva und den heiligen Seljumännern lesen sollte, die ihm und anderen Vorbilder sein sollten, konnte er nicht anders, als an diese bezaubernden, wohlerzogenen Mädchen zu denken, als wären sie auf der Erde, dazu geschaffen, zu lieben und sich zu freuen und das Leben der Männer zu verschönern, nicht dazu, sich zurückzuhalten, das Gebot ihres Schöpfers zu mißachten und in den Mühen des heiligen Lebens und Zölibats zu vertrocknen. Diese Heiligen, die von den Sagenschreibern so hoch gepriesen wurden, haßte er, und wenn er in der Wikingerzeit gelebt hätte …
Er dachte nicht weiter. Eine sonderbare Welle floß durch alle seine Adern, wie ein berauschender Trank. Er biß die Zähne zusammen und las und las, ohne jedes Wort zu verstehen.
Der Text der Sage verschwamm vor seinen Augen wie eine Strömung im Fluß und lief durch sein Bewußtsein, ohne dort eine Spur zu hinterlassen.
1. Kapitel: Snjólfur (5)
Der Mönch war ein Mann um die Dreißig, kräftig, etwas dicklich, glatt rasiert und mit Tonsur. Er war faul und weinerlich, mit weichen schneeweißen Händen. Sein Gesicht und seine Gestalt erinnerten an ein Kind in Männerkleidung oder einen unreifen Schuljungen, der noch keine Vorstellung von seiner Männlichkeit und dem Wesen des Mannes hatte.
Die Augen waren scharfblickend und tiefliegend und voll von unbestimmter Abenteuerlust – Sehnsucht nach etwas, das weit, weit weg war, das verboten war, sündig und mit dem Dasein des Mönchs unvereinbar, etwas, das den Geruch von Luxus, Kampfbereitschaft und Raubrittertum hatte.
Samstag, 19. April 2025
1. Kapitel: Snjólfur (4)
Links und rechts von ihm lagen Kalbslederbände, einige alt, mit dichtbeschriebenen Seiten und rosengeschmückten Anfangsbuchstaben, andere neu, mit gesetzten Lettern, weich eingebunden und gekürzt – denn die Hausherrin wollte möglichst viel Inhalt auf jeder Seite haben – und einige, in denen noch gar nichts geschrieben stand. Er war ein Kanoniker aus dem Kloster Munkaþverá, und obwohl er der Hauspfarrer auf Grund und der Beichtvater der Hausherrin war, mußte er sich damit abmühen, die alte Handschrift abzuschreiben.
Die Hausherrin Helga wollte keinem Mann Essen für nichts geben, auch nicht ihrem Beichtvater. Sie betrachtete es nicht als Broterwerb, lateinische Verse zu lesen und die Beichte abzunehmen. Deshalb halste sie dem Mönch diese Lederbände auf – und kam, um sich zu vergewissern, daß er sich nicht vor der Arbeit drückte.
Freitag, 18. April 2025
1. Kapitel: Snjólfur (3)
Obwohl er keine besondere Wertschätzung für diese weibliche Heilige hatte und kaum verstand, daß eine Frau wahrhaft gottgefällig sein konnte, schon gar nicht vorrangig vor Männern, hatte er vor der heiligen Sunniva doch soviel Achtung, daß es ihm am wenigsten Mühe machte, die Seljumanna þáttr zu lesen.
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2. Kapitel: Helga (1)
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Die Tür wurde hinter ihm geöffnet, und die Hausherrin Helga stand in der Tür. „Guten Tag, Pater“, sagte sie. „Störe ich dich in deiner heili...
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Der Kanoniker Snjólfur saß in seiner Kammer und las in einem alten Buch, das in Kalbsleder gebunden war.